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Was der Abgang Angela Merkels für die EU bedeutet

15. November 2021

16 Jahre Bundeskanzlerin, 107 EU-Gipfel, zwei Ratspräsidentschaften. Sie hat in der Europäischen Union etwas geschafft, das bisher niemand erlebt hat. Angela Merkels Amtszeit neigt sich mit großen Schritten dem Ende entgegen und damit auch Ihre Mitgliedschaft als Teil des Europäischen Rats. Die Arbeit in der Europäischen Union hat sie in den letzten Jahren stark mitgeprägt. Sei es in der Finanzkrise 2008 oder auch in der Flüchtlingskrise im Jahr 2015. Doch wie geht es in der EU ohne Merkel weiter?

von Leah Bartsch

Ihr voraussichtlich letzter EU-Gipfel ist gerade zu Ende gegangen. Verschiebt sich der Zeitplan der Ampel-Koalition noch einmal könnte sie dem Gipfel Mitte Dezember zwar noch einmal beiwohnen, aber verabschiedet wurde sie bereits jetzt. Mit „standing ovations“ fand die Verabschiedung im Europäischen Rat statt und viele ihrer Kolleg*innen haben die gemeinsame Arbeit gelobt und ihre Arbeit innerhalb der Europäischen Union herausgestellt. Es gibt wohl kaum jemanden, der die Arbeit der EU bisher so stark geprägt hat wie Angela Merkel – positiv, aber auch mit viel Gegenwind.

Denn sie war es, die Deutschland rückblickend souverän durch die Finanzkrise im Jahr 2008 manövrierte und deshalb vor allem Griechenland mit ihrer Stimme in der EU helfen konnte und Unterstützung versprach. Sie war es auch, die im Jahr 2015 tausende Geflüchtete ins Land ließ und so das Gesicht der Europäischen Union wahrte, wenn auch mit enorm viel Gegenwind. Sie war es, die Ende 2020 einen Kompromiss mit Ungarn und Polen aushandelte und so dafür sorgte, dass die Milliarden schweren Corona-Hilfen endlich ausgezahlt werden konnten. Damit hat sie ihrem vom luxemburgischen Premierminister vergebenen Titel „Kompromissmaschine“ alle Ehre gemacht und wie so oft zwischen den EU-Staaten vermittelt.

EU ohne Merkel sei wie „Rom ohne den Vatikan oder Paris ohne den Eiffelturm“

So Ratspräsident Charles Michel in seiner Dankesrede über Merkels Rolle in der Europäischen Union

Doch es gibt noch ein zweites Bild von Merkel in der EU. Auch wenn die EU viele Krisen ohne sie nicht so gut überstanden hätte, hatte sie nie große Visionen für die EU. Man kann ihr vorwerfen, dass sie die Krisen verwaltet hat und die EU dadurch gelenkt hat, aber keine Schritte zur Veränderung angehen wollte. Frankreichs Präsident Macron zum Beispiel hatte große Hoffnungen in eine gemeinsame Reformpolitik gesetzt, wurde von Merkel aber im Endeffekt in diesem Punkt doch eher enttäuscht. Denn Merkels EU-Politik war in einigen Momenten doch eher prodeutsch und weniger proeuropäisch, wie einige Staatschefs es sich von ihr gewünscht hätten. Ganz unschuldig ist Merkel dadurch nicht daran, dass Polen und Ungarn seit Jahren den Rechtsstaat abbauen. Denn sie hat zu spät Grenzen gesetzt und darauf reagiert.

Bei beiden Sichtweisen, mit denen man Merkels Auftreten in der EU beurteilen kann, ist aber festzuhalten, dass man wohl mit keiner Entscheidung alle Staaten glücklich machen kann. Während Frankreich und viele nordeuropäischen Staaten mit den wenigen Reformen eher unzufrieden waren, fanden dies viele osteuropäische Staaten gut. Das Ende von Merkels Sparpolitik während der Coronakrise stieß dagegen vor allem bei den südlichen Ländern auf viel Zuspruch, während die Migrationspolitik 2015 von den osteuropäischen Ländern abgelehnt wurde. Recht machen kann man es in der Europäischen Union eben nicht immer allen und da liegt genau das Geschick Merkels. Sie hat es immer wieder geschafft, Kompromisse zu erzielen, mit denen sie im Endeffekt doch alle Staaten in ein Boot holen konnte.

Welche Rolle könnte das Ende der Ära Merkel im Konflikt mit Polen und Ungarn spielen?

Auch auf ihrem letzten EU-Gipfel ließ Merkel es sich dennoch nicht nehmen, noch einmal an ihre Kollegen zu appellieren und Handlungshinweise für bestehende Krisen mitzugeben. Dabei betonte sie die größten Probleme, vor denen die EU gerade steht – Migration an der Grenze zu Belarus und der Schutz des Rechtsstaats.

„Politik ist doch mehr als nur vor Gericht gehen“

Angela Merkel bei ihrem Staatsbesuch in Polen im September 2021 über den Konflikt zwischen Polen und der Europäischen Union

Zum Rechtsstaatskonflikt mit Polen stellte sich erst kürzlich beim Staatsbesuch in Polen heraus, dass sie für einen Dialog mit Polen anstatt ständiger Gerichtsurteile ist. Einer der Gründe, warum Merkel bei allen Staatschefs der europäischen Länder hoch anerkannt ist, sie sucht das Gespräch für gemeinsame Lösungen. Vor allem in Ländern des Ostens wird sie durch ihre DDR-Vergangenheit geschätzt. Staatschefs wie Morawiecki oder Orbán glauben, Merkel könne sie daher besser verstehen. Damit hinterlässt auch sie eine große Lücke in der EU, die den Konflikt noch verschlimmern könnte, wenn diese Lücke nicht geschlossen wird und eine Beschäftigung mit den Problemen der östlichen Länder stattfindet. Die Mitgliedsstaaten werden sich erst einmal daran gewöhnen müssen, dass sie sich jetzt alle einmal mehr um den Zusammenhalt in der EU bemühen müssen. Außerdem gilt die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen als enge Vertraute Merkels. Somit könnte auch sie stärker in den Mittelpunkt des Konflikts rücken, da ihr vom EU-Parlament ein zu lasches Vorgehen gegen Polen bescheinigt wird und Morawiecki sie gleichzeitig immer schärfer angreift. Die Schutzwand Merkel wird bald auch für sie fallen und ihr Agieren schwieriger machen.

Wer könnte ihre Rolle übernehmen?

Die Frage bleibt trotzdem, wer diese Rolle als inoffizielle Leitfigur und Moderatorin übernehmen wird oder, ob es eine solche noch braucht.

Wenn man an große Pro-Europäer unter den europäischen Staatschefs denkt, kommt man sicher nicht an Emmanuel Macron, dem französischen Präsidenten vorbei. Mit seiner „Initiative für Europa“, die er 2017 bei einer Rede an der Sorbonne Universität und 2018 erneut im Europäischen Parlament vorgetragen hat, zeigt er im Gegensatz zu Merkel klare Visionen zur Erneuerung Europas, in denen er in den letzten Jahren auch auf mehr Unterstützung durch Merkel gehofft hatte. Darin präsentiert er seine Ideen für weniger Nationalismus und mehr Europa, um sich dem Protektionismus und allgemeiner Abschottung einzelner Staaten entgegenzustellen. Denn die Probleme, die auf Europa und die gesamte Welt zukommen wie die Klimakrise, Terrorismus oder Migration sind globale Krisen, die kein Staat allein bekämpfen kann. Mit diesen Ideen könnte er künftig die Rolle Merkels einnehmen, dabei aber mit dem Ziel, nicht nur zu vermitteln, sondern wirklich etwas zu verändern. Doch eine Hürde steht ihm dabei im Weg: die Präsidentschaftswahl im Jahr 2022 in Frankreich. Kann er diese für sich entscheiden, hätte Europa einen absoluten Pro-Europäer an der Spitze, der Erfahrung und ein „Standing“ in der Europäischen Union hat und so Vieles bewegen könnte. Dabei müsste er aber aufpassen insbesondere die osteuropäischen Staaten nicht zu verlieren, die Merkel immer als Gegenpol zur Reformpolitik Macrons gesehen haben. Daher wird es für ihn schwer, in Merkels Fußstapfen zu treten. Denn seine Politik in der EU ist eher davon gekennzeichnet, nicht alle Staaten in ein Boot zu holen und Kompromisse zu finden. Doch das alles hängt eben vor allem an den Wahlen in Frankreich und die sind für Macron keinesfalls sicher.

Ein weiterer Kandidat wäre der italienische Ministerpräsident Mario Draghi. Er hat viel Erfahrung, auch in der europäischen Politik als ehemaliger EZB-Chef und gilt als der Mann, der es geschafft hat, Italien wieder zu stabilisieren. Auch er will Europa gestalten und weiterentwickeln. Doch diese Art der europäischen Politik, die auch Macron will, wird in Osteuropa auf herbe Kritik stoßen. Außerdem sind die innenpolitischen Probleme in Italien zur Überwindung der Coronakrise und zum Umgang mit den populistischen Kräften in Europa große Herausforderungen, die für Draghi eine höhere Priorität haben werden. Denn nur innenpolitisch stabile Länder haben die Chance, Europa zu verändern und zum Lenker innerhalb dieser Veränderung zu wachsen.

Bleibt noch der spanische Ministerpräsident Sánchez. Auch Spanien war innenpolitisch lange schwach, wird aber seit Sánchez zunehmend stabiler und könnte zu einem wichtigeren Mitglied der Europäischen Union heranwachsen. Schon seit einigen Monaten zeigt sich Sánchez vermehrt als Vermittler zwischen einzelnen EU-Staaten und versucht Interessen zusammenzubringen. Damit könnte er der EU zeigen, wie eine gesamteuropäische Arbeit auch bei sehr unterschiedlichen Interessen und Voraussetzungen funktionieren kann. Denn er beweist, dass eigentlich feste Lager überwunden werden können und, wie man neue Bündnisse ausgelegt auf spezifische Interessen bilden kann.

Fakt ist: Europa wird eine Neuaufstellung erleben. Wer diese anführen wird und welche Rolle Deutschland künftig dabei spielen wird, ist unklar. Doch Europa wird weniger deutschlandzentriert sein und mehr Visionäre werden versuchen, die Europäische Union zu reformieren. Ob dabei alle Mitgliedsstaaten mitgehen, bleibt offen und ist eine große Herausforderung. Mögliche Leitfiguren sind dabei der französische Präsident Macron oder der italienische oder spanische Ministerpräsident. Doch wer weiß, ob die innenpolitischen Konflikte in den einzelnen Ländern dies zulassen und, ob wir nicht noch einen ganz anderen Staat an der Spitze Europas erleben. Die Chancen für eine Veränderung für Frankreich stehen jedoch gut. Denn Frankreich wird ab Januar 2022 die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen und so die Chance haben, Veränderungen in Europa anzustoßen und eine führende Rolle einzunehmen.

Die Mitgliedsstaaten sind mehr denn je gefragt, Kompromisse zu finden, um die EU zu schützen und zusammenzuhalten. Dass in einer solchen Situation mit Merkel die wichtigste Vermittlerin verschwindet, birgt Gefahren, kann aber auch zu einer Neuaufstellung der EU beitragen. Denn die große Visionärin war Merkel auch innerhalb der EU nie. Und die Europäische Union steht vor einer Wegscheide. Es stellt sich die Frage zwischen mehr Europa oder einem Rückgang zu mehr Nationalstaatlichkeit. Dafür müssen die östlichen Länder mehr Akzeptanz für ihre Probleme von den großen europäischen Ländern bekommen und sich ernstgenommen fühlen. Denn in einem Punkt herrscht doch Einigkeit: Ein Zerfall der Europäischen Union hilft niemandem.


Quellen

https://www.spiegel.de/ausland/bundeskanzlerin-in-polen-merkel-will-dialog-statt-konfrontation-a-0f798e0b-6705-43ab-a620-d673e1947008

https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-10/europaeische-union-eu-gipfel-bruessel-angela-merkel

https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-nach-merkels-abgang-wird-in-der-russlandpolitik-ein-grosses-vakuum-entstehen/27532288.html?ticket=ST-3739672-V7RC5mYWLweUTHidVe09-cas01.example.org

https://www.tagesschau.de/ausland/europa/eu-gipfel-merkel-113.html

https://www.tagesschau.de/ausland/europa/eu-gipfel-merkel-115.html

https://www.dw.com/de/der-letzte-eu-gipfel-von-kompromissmaschine-merkel/a-59600646

https://internationalepolitik.de/de/so-viel-muss-sich-aendern

letzter Aufruf jeweils am 14.11.2021

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