Claus Weselski, die GDL und die umstrittenen Streikmaßnahmen im deutschen Zugverkehr der letzten Wochen – daran denken wohl die meisten von euch wenn von Arbeitnehmer*innen-Rechten die Rede ist. Die Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland geht allerdings bis zur Industrialisierung und auf Arbeiter*innen-Bewegungen im 19. Jahrhundert zurück. Was das alles mit der heutigen SPD zu tun hat, lest ihr hier im Text.
Dieser Artikel ist Teil einer Reihe zur Geschichte der Bewegungen und Ideen hinter den großen politischen Parteien Deutschlands – folgt uns bei Instagram @politikneugedacht um immer auf dem Laufenden zu bleiben.
Mitte des 19. Jahrhunderts kommt auch in Deutschland ein historischer Wandel an, der bis heute prägt wie wir leben, arbeiten und konsumieren – die industrielle Revolution [1]. Als Vorreiter in der Entwicklung neuer Technologien wie der Dampfmaschine sowie im Massen-Abbau von Rohstoffen wie Eisen, Stahl und Kohle wird das Land schnell zu einer der größten Industrienationen und sorgt für mehr Arbeitsplätze und eine bessere Mobilität. Doch der steigende Bedarf an Baustoffen zum Beispiel für der die Eisenbahn führt auch zu miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen für die Arbeiter*innen: Kinderarbeit und 14-Stunden-Tage gehören für sie zum normalen Arbeitsalltag, es gibt keinerlei soziale Absicherung und keine Verpflichtungen für die Stahlbarone und anderen Profiteur*innen, etwas an diesen Bedingungen zu ändern [2] [3].
Die gescheiterte Revolution von 1848 führt zu keinen konkreten Verbesserungen, die Arbeiter*innen halten jedoch weiter an den Grundwerten fest, welche die Bewegung hervorgebracht hat – das Streben Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität schweißt sie weiterhin zusammen, in der Hoffnung gemeinsam mehr erreichen zu können [4].
Diese Zusammengehörigkeit wird dann am 23. Mai 1863 mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeiter Verbandes (kurz: ADAV) auch organisatorisch festgeschrieben. Die neu gegründete Vereinigung unter Ferdinand Lassalle gilt als die erste Massenpartei für Arbeiter*innen in Deutschland und stützt sich auf die Theorien des Kommunistischen Manifests von Karl Marx und Friedrich Engels [5] Nach inhaltlichen und ideologischen Auseinandersetzungen innerhalb der Partei und zeitweiser Zwangsauflösung als Folge von Otto von Bismarcks “Sozialistengesetz” vereinigt sich die ADAV schließlich 1875 auf dem Gothaer Fusionsparteitag mit der vorherigen Hauptkonkurrenz, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Diese Partei wird allgemein als die direkte Vorläufer-Partei der heutigen SPD angesehen [6].
Der 8-Stunden-Tag
Einer der größten Fortschritte im Bereich der Arbeitnehmer*innenrechte weltweit ist die Einführung des 8-Stunden-Tages – eine der Wohl ältesten Forderungen der Bewegung, die zu Beginn der industriellen Revolution erstmals in Großbritannien aufkommt. Ursprünglich soll die Idee auf den walisischen Unternehmer und Sozialreformer Robert Owen zurückgehen, der bereits in den 1810ern eine Einteilung des 24-Stunden Tages der Lohnarbeitenden in jeweils drei gleiche Teile zu jeweils 8 Stunden vorsieht: Schlaf, Arbeit, Freizeit [7]. In Deutschland fordert die SPD zum ersten Mal 1891 einen 8 Stunden-Tag im Erfurter Programm, zu dieser Zeit fast 30 Jahre nach Gründung des ADAV und über ein halbes Jahrhundert nach Owens Vorstoß, noch immer eine Utopie in der deutschen Industrielandschaft. Doch die Forderung im Arbeitskampf bleibt bestehen und in der Weimarer Republik wird er 1918 gesetzlich erstmals festgeschrieben [8].
8 Stunden Schlaf, 8 Stunden Arbeit, 8 Stunden Freizeit und Erholung.
Robert Owen
Heute meinen kritische Stimmen, dieses Prinzip hätte ausgedient und würde heute nicht mehr dem produktivitätsfördernden Zweck dienen [8]. Der 8-Stunden-Tag ist außerdem auf den Zustand zugeschnitten, dass nur ein Mitglied des Haushalts – und zwar in der Regel der Mann – erwerbstätig ist und die Frau den Haushalt übernimmt und sich um die Kinder kümmert. Nur dann kann der jeweils Erwerbstätige den Tag so aufteilen, wie es Owen vorgesehen hat – heute, in einer Gesellschaft in der Frauen auch arbeiten können und ein Einkommen in einem Haushalt ohnehin nicht mehr ausreicht, geht das System nicht mehr auf. Konzepte wie Home Office, Gleitzeit, Teilzeit-Arbeit und generell flexiblere Arbeitsstrukturen erleichtern zwar heute die Zeiteinteilung, starke Abweichungen vom 8-Stunden-Tag beziehungsweise der 40-Stunden-Woche als Standard-Modell gibt es jedoch weiterhin eher vereinzelt. Ob sich diese Vorstöße langfristig durchsetzen, bleibt abzuwarten [9].
Arbeitende Frauen
Mit der Veränderung der Rolle der Frau zu dieser Zeit, insbesondere als Arbeitskraft während des ersten Weltkriegs, geht auch ein historischer Diskurs über die emanzipatorische Wirkungskraft dieser neuen Position einher. Wie stark diese Wirkung tatsächlich war, ist heute umstritten. Es ist allerdings klar, dass die Stellung der Frau gegenüber dem Mann und der Gesellschaft sich in dieser Rolle verändert und dieser Umstand die Politik beeinflusst [10]. Mit Gründung der Weimarer Republik erhalten sie in Deutschland das aktive und passive Wahlrecht, auch dann bleiben sie noch lange stark unterrepräsentiert [11] [2]. Finanziell sind sie von Ehemann oder Familie abhängig, die SPD fordert 1921 im Görlitzer Programm erstmals das Recht der Frauen auf Erwerb – es dauert aber bis 1977 bis Frauen auch ohne die Einwilligung ihres Ehemannes einen Beruf ergreifen dürfen [12].

Das liegt unter anderem auch daran, dass die Frau in der Ideologie des nationalsozialistischen Regimes 1933-1945 hauptsächlich wieder die Rolle der Ehefrau und Mutter einnehmen soll [12]. In dieser Zeit ist die SPD – so wie auch alle anderen Parteien außer der NSDAP – verboten und ihre Mitglieder werden politisch verfolgt und ermordet [13].
Von der Arbeiter*innen-Partei zur Volkspartei
Insbesondere ab der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts und mit zunehmender Globalisierung wandelt sich Deutschland von einer hauptsächlich produzierenden- zu einer Dienstleistungsgesellschaft – Arbeiter*innen im klassischen Sinne gibt es daher immer weniger (in Deutschland) [14]. Infolgedessen vollzieht sich 1959 auch in der SPD ein radikaler politischer und struktureller Wechsel – mit dem Godesberger Programm legt die SPD das Label Arbeiterpartei ab und nennt nun Volkspartei, verbunden mit dem Anspruch für das ganze deutsche Volk Politik machen zu wollen [15]. Gerechter Zugang zu Bildung wird nun ein zentrales Thema hinter der Studentenbewegung und 1969 wird Willy Brandt Bundeskanzler und sagt: “Wir wollen mehr Demokratie wagen”. Das meint unter anderem: Fokus auf Bildung, Ausbau der Hochschulen, auch Arbeiter*innen-Kinder können jetzt studieren. Gerechter Zugang auf Bildung soll möglichst vielen Menschen gesellschaftlichen Aufstieg erleichtern [16].
Was ist die Basis?
Seitdem ist viel geschehen. Bei der Bundestagswahl im Jahr 2013 sagt SPD Kanzlerkandidat Peer Steinbrück anlässlich des 150. Geburtstages seiner Partei: “Unsere Werte sind unverbrüchlich, sie haben nichts von ihrer Aktualität verloren”. [3] Trotzdem kann die SPD bei dieser Wahl nicht überzeugen, geht in die große Koalition und erreicht vier Jahre später unter Schulz ihr schlechtestes Ergebnis in der Parteigeschichte mit nur 20,5 Prozent der Stimmenanteile. Wissenschaftler*innen führen die Krisen der SPD – auch schon vor dieser Wahl – unter anderem auf einen Verlust der Basis zurück und attestieren der deutschen Sozialdemokratie eine weitreichende Krise [17] [18].
Mit der „Basis“ ist meist eine Gruppe von Menschen gemeint, die klassischerweise von sozialer Arbeitspolitik mit Fokus auf die Interessen von Arbeitnehmer*innen profitieren würde – wen das genau einschließt, ist aber in ständigem Wandel. Weil Deutschland den Produktionssektor größtenteils ausgelagert hat, müssen Parteien die sich mit Arbeitspolitik beschäftigen, sowohl global als auch lokal denken. Einerseits verstehen, wie große Unternehmen global agieren um Lohnkosten gering zu halten, indem sie zum Beispiel in Bangladesh produzieren, andererseits wie sie lokal agieren um strukturierte Organisation von Arbeitnehmer*innen immer weiter zu erschweren – wie jüngst im Beispiel von Lebensmittel-Lieferant Gorrilas [19].
Schluss mit Volksparteien?
Aktuell sonnt sich die SPD wenige Tage vor der Bundestagswahl 2021 nach langer Zeit wieder im Umfragehoch. Sowohl die SPD als auch die CDU sind aber weit entfernt davon, alleine die absolute Mehrheit zu stellen und auch eine erneute große Koalition ist unwahrscheinlich [20]. Expert*innen sprechen sogar von einem Ende der Volksparteien [18]. Was denkt ihr über die Zukunft der „Volksparteien“ und die zukünftige Ausrichtung Sozialdemokratie? Lasst es uns auf unseren Social Media Kanälen wissen!
Quellen
[1] Dokuserie von Terra X zur Industriellen Revolution
[2] YouTube-Video „Geschichte der sozialen Demokratie“ – Friedrich-Ebert-Stiftung
[3] YouTube-Video „Vom Arbeiterverein zur Volkspartei – 150 Jahre SPD | Politik direkt“ – DW Deutsch
[4] Artikel „Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV)“ LEMO
[5] Primärquelle: Das Kommunistische Manifest
[6] Artikel „Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein“ SPD Geschichtswerkstatt
[7] Artikel „A brief history of the 8-hour workday, which changed how Americans work“ CNBC.com
[8] WDR 2 Podcast „23. November 1918 – Acht-Stunden-Tag in Deutschland eingeführt“
[9] Artikel „Wieso gibt es den Achtstundentag?“ ze.tt
[10] Artikel „Frauen vor und nach dem Ersten Weltkrieg“ – Deutschlandfunk
[11] Artikel „Einführung des Frauenwahlrechts“ LEMO
[12] Artikel „8. März: Weltfrauentag“ Bundeszentrale für politische Bildung
[13] Artikel „Frauenbild im Nationalsozialismus“ Universität Bielefeld
[14] Artikel „Arbeit in der Dritten Welt – Zum Thema“ FES-Netz-Quelle
[15] Artikel „Godesberger Programm“ LEMO
[16] YouTube Video „1969-10-28 – Willy Brandt – Wir wollen mehr Demokratie wagen“
[17] Wissenschaftlicher Artikel: „Der Überlebenskampf der SPD als
Volkspartei“ Norbert Seitz
[19] Artikel „Fahrradtour statt Kündigungsschutz“ Tagesspiegel
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