ein Gastbeitrag von Domenic Gehrmann (Volt)

Über den Autor: Domenic Gehrmann (23) ist seit März 2022 stellvertretender Vorsitzender von Volt Baden-Württemberg. Nach dem Abitur am Sozialwissenschaftlichen Gymnasium absolvierte er ein Programm zum Bachelor of Trade CCI. Im Landesvorstand von Volt ist er unter anderem verantwortlich für die Bereiche Außenkommunikation, Mitgliederverwaltung, Recht und Organisationsmanagement.
Über Volt: Volt wurde 2017 als paneuropäische Bewegungspartei gegründet und ist eine europaweite Partei, was bedeutet, dass sie nicht nur in Deutschland sondern auch in den anderen EU-Staaten gewählt werden kann. Volt setzt sich nach eigenen Angaben für eine föderale Europäische Republik als Grundlage für ein progressives Europa ein.
Sieben Millionen verlorene Wahlstimmen?
Bundestagswahl 2013: Ganze sieben Millionen Wähler*innen haben ihre Stimme an Parteien gegeben, die es nicht über die 5%-Hürde geschafft haben. Diese 7.000.000 Stimmen haben damit ihre Gültigkeit verloren, was knapp 16 % aller abgegebenen Stimmen entspricht. Und auch 2021: 4,1 Millionen Stimmen – so, als ob eine Stadt von der Größe Berlins nicht vertreten sei. Bei der Landtagswahl im Saarland 2022 wurden 22,3 % der Stimmen nicht berücksichtigt. Das ist mehr als jede 5. Stimme.
„Praktisch hat nicht jede Stimme die gleiche Chance auf Erfolg.“
Domenic Gehrmann
Den Wähler*innen wird stets versichert, alle Stimmen seien gleich viel wert und jede Stimme zählt, aber praktisch hat nicht jede Stimme die gleiche Chance auf Erfolg und wird gleich berücksichtigt. Dabei gilt der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit nach § 38 des Grundgesetzes, welcher besagt, dass jede*r Wählende mit seiner*ihrer Stimme den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments haben muss.
Nicht alle wählen das, was sie eigentlich wählen wollen
Doch real wählen Menschen in Deutschland nicht das, was sie eigentlich wählen wollen. Sie befürchten, mit der Wahl einer Partei, welche die 5-%-Hürde nicht erreicht, mit ihrer Stimme im Parlament nicht vertreten zu sein. Dies führt zu einer Wahl aus Angst und Taktik statt aus Herz und Verstand. Einer von Volt Deutschland in Auftrag gegebenen Umfrage zufolge, schließen 50 % der Wähler*innen, die grundsätzlich mit Volt sympathisieren, aufgrund der 5%-Hürde von vornherein aus, Volt ihre Stimme in der Bundestagswahl zu geben.
Die 5 %-Hürde stellt ein demokratisches Problem dar, denn durch dieses Denken vergeben Wählerinnen ihre Stimmen an andere, meist radikalere Parteien oder nehmen an der Wahl gar nicht erst teil. Doch woher kommt diese Sperrklausel überhaupt? Sie wurde 1953 bundesweit festgelegt und sollte eine Zersplitterung des Parlaments, ähnlich wie in der Weimarer Republik, verhindern. Es galt der Grundsatz, dass ein arbeitsfähiges Parlament wichtiger sei, als die exakte Darstellung des Wähler*innenwillens. Etablierte Parteien werden gestärkt und neue Parteien aus dem Parlament gehalten, um Kontinuität und Koalitionsbildung sicherzustellen. Kleinen und jungen Parteien wird der Einzug ins Parlament in doppelter Hinsicht erschwert. Populismus scheint oft der einzige Weg zu sein, genug Aufmerksamkeit zu generieren, um in der Politik Fuß zu fassen.
Schaut man jedoch einmal über den deutschen Tellerrand hinaus, zeigen uns Länder wie die Niederlande, dass Parlamente, auch ohne eine solche Hürde und aus bis zu 17 Parteien bestehend, politisch arbeitsfähig sind. Bei den italienischen Senatswahlen fällt eine Hürde mit 3 % deutlich niedriger aus, während in der Schweiz bereits ein Sitz für den Einzug ins Parlament ausreichend und damit hürdenfrei ist.
„Für die Europawahl wurde eine Sperrklausel bereits für verfassungswidrig erklärt. […] Warum sollte eine Ausnahme gelten?“
Domenic Gehrmann
Des Weiteren muss die Koalitionsbildungsfähigkeit für die Funktionsfähigkeit des Parlaments nicht zwingend gewährleistet sein, denn in Norwegen, Schweden, Portugal oder Tschechien übernahmen in den letzten Jahren Minderheitsregierungen die politische Führung. Diese waren stabil und konnten durch immer wieder wechselnde Mehrheiten den politischen Diskurs im Parlament neu entfachen. Ein Prozess, der in Deutschland in den GroKo-Jahren oft vermisst wurde. Für die Europawahl wurde eine Sperrklausel bereits für verfassungswidrig erklärt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil 2011 festgehalten, dass die 5-%-Sperrklausel gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien verstößt. Wieso also sollte da für die Bundestagswahl oder eine Landtagswahl eine Ausnahme gelten?
Der Ausweg heißt Ersatzstimme
Doch selbst wenn die deutsche Politik weiterhin an der Hürde festhalten möchte, gibt es einen Ausweg! Und dieser Ausweg heißt Ersatzstimme. Mit einer Ersatzstimme für die Zweitstimme setzen Wählerinnen zunächst bei der Partei ihr Kreuz, die ihre Interessen am besten vertritt. Die Wahl nach Herz quasi. Im nächsten Schritt wählen die Wähler*innen im besten Fall eine Partei, die den Einzug ins Parlament voraussichtlich schaffen wird und weitestgehend ihrer politischen Gesinnung entspricht. Die taktische Wahl also. Wenn die Partei der ersten Wahl an der 5 %-Hürde scheitert, geht die Stimme somit nicht verloren, sondern wandert zur Partei der zweiten Wahl.
Es wird Zeit, Demokratie zu leben. Viele Parteien und Organisationen haben sich diesem Thema verschrieben. Vielleicht schadet es nicht, sich einmal im Zuge der nächsten Wahl, mit den Programmen dieser Parteien zu beschäftigen, um eine gute Entscheidung
für das Setzen des Kreuzes treffen zu können und die Stimme nicht zu „verschenken“.
Quellen
BVG Urteil vom 09. November 20112 BvC 4/10
Civey-Umfrage im Auftrag von Volt Deutschland
Wahlergebnisse und Vergleichswerte:
- Bundeswahlleiter
- https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2021-09-26-BT-DE/index.shtml
- https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2022-03-27-LT-DE-SL/index.shtml
- https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2021-09-26-LT-DE-BE/index.shtml
https://www.juraindividuell.de/artikel/wahlrechtsgrundsaetze-bundeswahlgesetz/
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/163866/60-jahre-fuenf-prozent-huerde/
https://www.wiwo.de/politik/europa/europa-diese-laender-haben-minderheitsregierungen/20639592.html
https://www.voltdeutschland.org/ersatzstimme
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