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2022 – Wahnsinn, warum schickst du mich in die Krise?

21. Dezember 2022

Im Schutz der Dunkelheit fing es ganz frisch am ersten Januar an. In dunklen Zeiten hört es am 31. Dezember auch wieder auf. Es? Das Jahr 2022. 365 Tage teleportieren uns von 2021 nach 2023. Soweit eigentlich normal. Und doch ist es ein Jahr wie kein anderes. Politisch verändert sich in diesem Jahr, verändert dieses Jahr, viel. Nicht alles, aber viel. Wir haben immer noch die Ampel-Regierung, wir beschweren uns immer noch über Politiker:innen und haben immer noch Probleme mit Verfassungsfeinden, alles wie immer eigentlich.

Es scheint allerdings nichts mehr wie noch im Januar zu sein. Stichwort Wort des Jahres: Die Zeitenwende wurde eingeleitet, Corona scheint vergessen zu sein, stattdessen wurde mehrmals der dritte Weltkrieg gefürchtet. Wir reden über Energie und Waffen, die CDU stützt sich auf Greta Thunberg, wenn es um die Verlängerung von AKW-Laufzeiten geht, die SPD spricht sich für Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet aus, die Grünen sind auf der Suche nach fossilen Brennstoffen und lassen Kohlekraftwerke hochfahren… Willkommen in der verrückten Welt von 2022. Köpfe rollen, nicht jeder Kopf wird eingesetzt, die Welt steht ganz offensichtlich Kopf. Wtf ging eigentlich dieses Jahr ab – außer Diskussionen um Layla? Zeit für einen sicherlich unvollständigen, jedoch stets bemühten Jahresrückblick. Was hat dieses Jahr mit uns gemacht, was bringt das alte Jahr jungen Menschen? Eines sei vorweggenommen: Wir haben es wohl überstanden. Irgendwie zumindest. Die Frage ist nur, wie?

Schnapsidee

22, Schnapszahl. Doch dass eine Schnapsidee in diesem Jahr unser Leben so verändert, das kam unerwartet. Die größte Schnapsidee? Dieses Prädikat verleihen wir Putin. Bereits das Wort des Jahres 2022 mit dem aus 2021 verglichen, zeigt, wie krass sich Politik geändert hat. Während 2021 mit Wellenbrecher noch die Corona-Pandemie unsere Aufmerksamkeit erfasste, bahnte sich die Zeitenwende an. Das Wort wurde von Kanzler Olaf nicht nur in der ersten Sonntags-Sitzung des Bundestages verkündet, es trifft auch erschreckender zu, als es auf den ersten Blick scheint. Was wendet sich da eigentlich? Das Gefährliche ist vermutlich, dass das gar nicht so klar ist, was sich wie wenden wird. Sicher ist im Krieg eben nichts und niemand. Klar ist, dass die Russlandpolitik der letzten Jahre und das Setzen auf russisches Gas, weil das so schön billig war, wohl doch nicht so schlau war. Hinterher ist man immer schlauer, gut. Aber wo ist jetzt das Problem mit der Zeitenwende? Es wendet sich das Blatt zwischen Demokratie, völkerrechtlichen Prinzipien und Freiheit auf der einen und Autokratie, Populismus und Gewalt auf der anderen Seite. Nicht nur in Russland oder Belarus oder Afghanistan oder Iran oder oder – die Liste ist zu lang! – auch im Balkan, auch in Deutschland schlägt wieder Nationalismus, schlägt Rechtspopulismus ungeniert zu, entfacht ein Feuer des polemischen Ablehnens der demokratischen Regierungen. Am Rande der Gesellschaften, aber auch mittendrin. Nicht dass, sondern wie viele Menschen sich mit solchen Ideologien infizieren, ist das Problem.

Zurück zur Zeitenwende. Die Zeiten ändern sich, weil es nun darauf ankommt, unsere Prinzipien zu schützen. Mit Mitteln, die wir zuvor nicht besonders gut kannten, Stichwort Sondervermögen für die Bundeswehr in Kombi mit Nicht-Schaffen des Beschaffens von Material (bzw von allem außer Reichsbürgern). Prinzipien wie Demokratie, Freiheit, Menschenrechte, Frieden stehen auf dem Spiel. Prinzipien, die nicht verhandelbar sind. Prinzipien, die doch zu oft missachtet werden.

Russland: ein souveräner Staat greift einen anderen an, weil er Bock darauf hat und sich bedroht fühlt, merkste selber was? Auf territoriale Integrität gepfiffen, für einen Despoten gelten andere Regeln. Hätte der Wladimir wohl gerne. Völkerrechtlich sieht das anders aus. Das sieht auch die UN so, mit einer überragenden Mehrheit verabschieden die Mitgliedsstaaten Resolutionen – warme Worte im frostigen Kriegsklima, doch immerhin ein klares Plädoyer für das Völkerrecht und internationale Prinzipien. Das Signal: Wer handelt, wie es Putin aktuell tut, wird isoliert, international geächtet. Schade nur, dass den Kreml das nicht zu interessieren scheint. Wenn es dort überhaupt ankommt, denn immerhin wird in propagandistischer Darstellung eine ganz andere Welt dargestellt. Lebt Putin in einem Paralleluniversum, in dem all das Sinn ergibt? In diesem Universum gibt es zumindest keine Legitimation für sein aggressives kriminelles menschenfeindliches imperialistisches egoistisches rücksichtsloses Handeln. Nüchtern betrachtet ist diese Denke Wahnsinn. Mal eben einen Nachbarn überfallen, in den USA kannst du dafür abgeknallt werden. In Deutschland werden Helme geliefert. Es gab gewisse Startschwierigkeiten, dennoch scheint auch in der Außenpolitik und Einstellung zum Militär die Zeitenwende eingeleitet zu sein. Zumindest viel Geld wurde abgefeuert. Wohin es einschlägt, ist hoffentlich präzise geplant. Mittlerweile gibt es nicht nur warme Socken für die deutschen Soldaten, es kam tatsächlich zu einer 180 Grad Wende: Lieferung von Kriegswaffen in ein Kriegsgebiet zur Sicherung europäischer Prinzipien. Klingt paradox, scheint aber die bittere Realpolitik der Zeitenwende zu sein.

Sanktionen

Und die europäischen Sanktionen? Nun ja, es gibt sie. Eine lang vermisste Einigkeit war im Frühling zu spüren, Polen und Ungarn merkten auf einmal, dass die EU manchmal doch gar nicht so blöd ist, schön war das! Nimm das, Putin. Leider gab es dann doch wieder Streit, Stichwort Gas, da doch jeder erst an seinen eigenen Staat beziehungsweise die nächste Wahl und dann erst gegebenenfalls vielleicht also eventuell an andere oder sowas wie die Umwelt denkt. Ungarn, tja, da gibt es noch einen Konflikt. Die EU möchte eigentlich weniger Geld an Staaten zahlen, die Defizite der Rechtsstaatlichkeit aufweisen. Das finden diese natürlich blöd und zack – Zoff. Zu Jahresende setzte die EU aber tatsächlich ein Zeichen: im Rahmen eines Rechtsstaatverfahrens wird Ungarn künftig das Taschengeld gekürzt, bis Orban und Kumpanen ihren Regierungsstil an europäische Vorgaben anpassen. Weniger Korruption, dafür mehr Rechtsstaatlichkeit. Nicht Ungarn, aber ungern beachtet auch die belarussische Führung diese Dinge. Demokratie wurde 2020 Thema: Lukaschenko dachte sich bei der Wahl 2020 „fake it till you make it“, jedenfalls wird das Wahlergebnis bis heute in der EU und in Deutschland als gefälscht eingestuft. Die Oppositionsbewegung wurde übrigens weggesperrt, verbannt, in den Kerker geschmissen – wie man in einem modernen Rechtsstaat eben mit Demokratie, Freiheit und Menschenrechten umgeht. Auch im Jahr 2022 glänzte Belarus nicht mit europäischen Werten, als die Führung des Landes nicht auf Abstand von Sugar Daddy Putin ging.

Apropos Werte und Menschenrechte. Katar. Iran. Um nur die schweren Fälle mit medialer Prominenz zu nennen.

Iran

So viel Hoffnung, so viel Leid. Das Mullah-Regime unter Druck: Nach dem Tod von Mahsa Amini, die nach ihrer Verhaftung durch die sogenannte Sittenpolizei ums Leben kam, ging es bergab für das Regime und bergauf für die Freiheitsbewegung. Diese ging von Frauen aus, wird aber von allen Teilen der Bevölkerung getragen, das ist das Besondere. Die Proteste, dieser Wille nach Freiheit, dieses Verlangen nach Rechten, dieser Kampfgeist wird auch in das kommende Jahr übergehen. Hoffentlich wird es ein gutes Jahr für den Iran. Und die Frauen. Und die Menschen. Und die Gerechtigkeit. Und die Freiheit. Und die Menschenrechte.

Frau. Leben. Freiheit.

Katar

Da fehlen einem die Worte, oder so etwas Ähnliches wollte die deutsche Fußball-Nationalmannschaft mit dem Desaster rund um die Kapitäns-Binde mitteilen. Oder stilles Bedauern, dass für den Katarischen Kader Menschenrechtsverletzungen, beim Bau gestorbenen Arbeitskräfte und Misshandlung der LGBTQ+-Community nomminiert sind. Fußballstimmung war jedenfalls dann doch anders bei Glühwein und Schnee als im Sommer bei gegrillten Supermarkt-Würstchen und warmen Bier. Aber der WM-Spaß war für das deutsche Team ja auch schnell wieder vorbei. Oh weh, wenn man da noch eine gelbe Karte kassiert hätte für das Tragen einer Armbinde, da würde es einem ja glatt zu bunt!

Klima-Terror

Das Jahr fing sogar gut an. Erster Januar, das Gesetz zum Verbot von Plastikgeschirr, juhu wir retten die Welt. Und ein weiteres Gesetz machte den Tag gleich zum Doppel-Wumms: Küken dürfen auch nicht mehr geschreddert werden, nur weil sie männlich und Huhn und dummerweise finanziell überhaupt nicht lukrativ für die Landwirtschaft sind. Es standen also alle Zeichen darauf, dass wir in diesem Jahr den längst überfälligen Klimaschutz endlich ernst angehen, wir werden alle vegan und retten die Welt. Es sei denn, es kommt etwas dazwischen. So wie letztes Jahr. Und vorletztes. Und vorvor- und vorvorvor- und ach, unser Klimaschutz ist einfach das allerletzte, weil er allerletzte Priorität hat. Zu doof auch vom Klima, dass man das erst merkt, wenn einem das Wasser bis zum Hals steht. Und es dann auch noch zu spät ist. Das Klima steht jetzt auf der Kippe. Darauf weist dieses Jahr berühmt berüchtigt die „Letzte Generation“ hin. Die Mitglieder weisen zu unserem Ärgernis darauf hin, dass die nächsten zwei bis drei Jahre würden entscheiden, ob wir das mit der völligen Klimakatastrophe irgendwie noch aufhalten können oder der Planet leider zwischen SUVs, Rindersteak und fast fashion hops geht. Zwei erste Forderungen stellen die Aktivisten, bis zu deren Erfüllung stören sie das öffentliche Leben, damit Klimawandel als das verstanden wird, was er ist: Ein Notfall. Diese ersten Forderungen sind ein Tempolimit von 100km/h und ein 9 Euro-Ticket für den ÖPNV. Das ist sie also, die Klima-RAF. Schwer bewaffnet mit Warnweste und Kleber bis an die Fingerspitzen werden Autofahrer terrorisiert. Nicht zu vergleichen mit Behinderungen durch Baustellen, Unfälle und jubelnden Fußball-Fans auf Straßen, die über Regeln stehen.

Polarisierung

Polarisierung trifft nicht nur Deutschland. Ganz große Klasse sind darin auch die USA. Trump is back, zumindest hätte er das gerne. Bei den Midterms unterstützte er ganz eifrig seine kurs-treuen Sprösslinge. Blöd, dass ausgerechnet der Gouverneur DeSantis aus Florida, sein Rivale für die Präsidentschaftswahl 2024, so gut abgeschnitten hat. Das wird sicherlich noch spannend, doch darüber werden wir uns noch genug die Gehirne zermürben. Von einem English speakendem State in den nächsten: England. Beziehungsweise Vereinigtes uneiniges Königreich Great Britain. König-Reich, und nicht mehr Königin-Reich. RIP Elizabeth II. Good Luck für den next one in Thronfolge. In Punkto Premierminister:innen-Folge waren die Engländer:innen 2022 sogar übereifrig. Gleich drei Premiers haben es dieses Jahr hinter die Tür der Downing Street geschafft: Boris Johnson, Liz Truss und nun der hinduistische, irgendwie sehr reiche Rishi Sunak. Bei uns ist da zumindest mehr Konstanz. Nur eine Regierung und die beste Oppositionsarbeit macht auch immer noch die FDP.

Rettet den Regenwald! Dachte sich die Welt für ein Wahlergebnis, nämlich zur brasilianischen Präsidentschaftswahl. Lula da Silva ist durch seinen Sieg doch nicht ins Gefängnis gekommen, sondern schützt jetzt den Regenwald. Zumindest mehr als der nicht wieder gewählte Ex-Präsident Bolsonaro, der nun selbst bei der bisher knappsten Wahlentscheidung in Brasilien (Stichwahl: 50,9% vs 49,1%) abgesägt wurde und das Ergebnis auch tatsächlich akzeptierte. Anders als etwa ein amerikanischer Ex-Präsident. Apropos Comeback. Auch Israel hat ein solches zu bieten: Netanjahu gewann mit einem möglicherweise bislang rechtesten Bündnis im Lande die Präsidentschaftswahlen, nach 14 Monaten als Oppositionsführer, im Alter von 73 Jahren und mit Korruptionsvorwürfen vor Gericht.

Apropos rechts: Schweden und Italien sind da bei ihren Wahlen auch gut – beziehungsweise aus demokratischer Sicht schlecht – dabei gewesen. Und auch die AfD in Deutschland ist auf dem Aufwärtstrend und würde aktuellen Umfragen zufolge etwa jede sechste Stimme holen.

Corona-Krise, Krieg, Energiekrise, Inflation, kurz: menschliche Angst, Verunsicherung, Unzufriedenheit, wenigsten von diesem Nährboden wird es im kommenden Jahr Überfluss geben. Populismus braucht nicht viel mehr als Emotionen und reißerische Botschaften. Und voilà, da ist sie schon am Brodeln, die braune Suppe.

Zukunft

Viele Sicherheiten verloren wir 2022. Doch eines lässt sich noch mit Sicherheit sagen: Dringender als je zuvor muss Politik neu gedacht werden. Es liegt an uns jungen Menschen, die Zukunft der Demokratie zu schützen. Der Demokratie auch eine Zukunft zu gewähren. Nicht mehr und nicht weniger.

Also fangen wir gleich an. Politische Bildung, informiert wählen gehen, verstehen, was politisch abgeht – weil uns das alle betrifft. Außerdem: kritisch müssen wir sein und selbstständig denken lernen, jawohl, kritisch und selbstständig nachdenken über Politik, damit Propaganda und Fanatismus hier unmöglich werden. Politische Grundausbildung. Von uns, für uns. Uns – junge Menschen, die Bock haben, ihre Zukunft noch zu erleben. Sie muss auch gar nicht wortwörtlich granatenmäßig werden, Demokratie, Frieden und Menschenrechte für alle würden schon reichen.

Ich wäre gerne optimistisch für das neue Jahr. Immerhin gibt es 365 neue Chancen, niemanden umzubringen, kein Rechtspopulist zu sein, keinen Hass zu verbreiten. Dennoch überwiegt für mich die Sorge um die Welt, um Europa, um Deutschland. Die Folgen der Energiekrise werden nächstes Jahr erst richtig reinkicken, wenn von Anfang an kein billiges Russland-Gas da ist (dieses Jahr hatten wir es bis Sommer). Außerdem stehen zwei große Landtagswahlen an, verbitterter Wahlkampf ist da vorprogrammiert. Ich hoffe inständig, dass die Parteien nicht auf populistische Meinungsmache setzen, sondern vernunftbasiert vor allem auf die wichtigen Dinge blicken: Demokratie. Klimaschutz. Frieden im In- und Ausland. Miteinander statt gegeneinander. Leider ist diese Hoffnung mit Blick auf aktuelle politische Rhetorik nicht sonderlich groß.

Wie schön wäre es, wenn 2023 „Frieden“ das Wort des Jahres würde. Oder „Miteinander“. Es liegt auch an uns, was wir aus dem neuen Jahr machen. Wir bekommen keinen Neustart, wir haben ein schweres Erbe aus 2022 zu schultern. Und dennoch ist es so wichtig für die Demokratie, dass wir zusammenhalten. Unterschiedliche Meinungen sind okay, sind gut. Hass und Abgrenzung sind unser Grab. In 2023 wird nicht alles gut werden. Muss es auch nicht. Es soll nur weniger schlecht werden.

In diesem Sinne, guten Rutsch aus der Schlitterpartie 2022 heraus. Auf dass 2023 weniger blöd, aber mehr für junge Leute wird. Vorsatz für das neue Jahr: Nicht die Hoffnung verlieren, Leute.

Quellen

https://www.zdf.de/nachrichten/politik/eu-ungarn-geld-europa-europaeische-union-100.html

https://www.zdf.de/nachrichten/politik/israel-wahlen-sieg-netanjahu-100.html

https://www.tagesspiegel.de/politik/das-sind-die-wichtigsten-politischen-themen-2022-in-deutschland-4299349.html

https://rp-online.de/panorama/jahresrueckblick/wichtige-ereignisse-2022-was-passierte-in-der-welt-uebersicht_bid-9638139#145

https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/belarus-node/portrait/202924

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